Reiner Kunze, Schwerenöter, Wirrkopf

 

»Und das gedicht ist verzicht
im leben wie in der sprache
Doch im leben zuerst,
und in beidem gleichviel

Nicht mehr an welt,
als du an einsamkeit entbehren kannst

Nicht einmal mehr an liebe«

aus Reiner Kunze`s Gedicht »selbstgespräch für andere«,
Lyrikbändchen »eines jeden einziges leben«, 1986                                         


1.

In der Sprache
verzichten
gereicht einzig dem Quatschkopf
zum Verdienst.

Selbstgespräch
für andere,
unter Narzissten eine feste
Umgangsform.

Zusammen sind
kleine Welt und
kleine Liebe
Habenichtse.

2.

Verkündet
einer das schier Unmögliche,
ohne zu sterben wolle er an W e l t
Verzicht leisten,

so ist der
Misanthrop, der Apostel
offenbar,
ein Tyrann schon durch die Tür,

der anderen
wortwörtlich
sein Ding
definiert:

„das Gedicht
ist
Verzicht
im Leben wie in der Sprache“.

So zugunsten der Tyrannis
sich gerecht
im Verzicht
befleißigen,

heißt
für den Bauern:
leeres Stroh
dreschen.

Überhaupt
kann
aus dem
Herzen das

einer wollen können
oder gar wem
nur
wünschen?

3.

Verdorrt
im Hochmut, anstell
des Dichters – sieben kurzer
Leben – Berichts.

Wer die Einsamkeit als Wacht
vor die Liebe
sperrt,
gehört zur Spezies Menschenschänder.

4.

Einsamkeit
kommt
in jedem Leben
wie der Tod

von allein,
die muss der
Dichter
nicht rufen.

In der Einsamkeit ist kein Mensch.

5.

Gleichviel doch im Leben zuerst: Mit Leben, Lieben,
Sprache, Welt
verkümmert logischerweise
gleichviel die Logik:

denn als Teile
gehört
der logische Gedanke und seine Sprache
dem Leben an.

6.

Für das Gedicht
allgemein
das Beste,
so

sein misanthropischer
Erzeuger,
damit es gedeihe, sei
Einsamkeit.

Menschen,
was jedermann weiß,
verderben von
Grund auf den Charakter!

Was können
des Erzeugers
leibliche Kinder, der Dichter als leiblicher Erzeuger –
wie von ihnen  in den Jahren

leider nur durch
den Dichter
berichtet wurde –  denn nun aber selber
heute sagen?

Was
erzählen sie, was
behalten sie
für sich von seinen Einsamkeiten,

ohne einen einzigen
eigenen öffentlichen Vers –
für ihr je eigenes
»eines jeden einziges leben«?

Die Beisetzung
wünschten
seine nächsten Verwandten
in aller Stille.

7.

Dieser Dichter läßt die Welt schrumpfen,
hilft nicht ohne
das Versen
leben.

 

Standpunkt des Ernst Meister:

“HIER,
gekrümmt
zwischen zwei Nichtsen,
sage ich Liebe.
Hier, auf dem
Zufallskreisel
sage ich Liebe.
Hier, von den hohlen
Himmeln bedrängt,
an Halmen
des Erdreichs mich haltend,
hier, aus dem
Seufzer geboren,
von Abhang
und Abhang gezeugt,
sage ich Liebe.”

zitiert aus “Sage vom Ganzen den Satz”, Gedichte 1972