Biedermann und die Brandstifter, die Deutschen, das Gas, die Russen und die Ukrainer.

18. Juni 2022
Geschichte , heute aktuell , Kommentare , Russischer Angriffskrieg , Ukraine , Zeitgeschehen
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Die Mehrheit in Deutschland setzt voraus, sie hätte von Natur aus ein Anrecht auf Gaslieferungen aus Russland, also nicht nur eigentlich, sondern “in echt” und jederzeit.  Meistenteils findet man also in der Argumentation der Deutschen einen tiefer gehenden, ignoranten Fehler, bereits in der Beurteilung der Dimensionen der von Deutschland geleisteten Unterstützung der Kriegsgegner Russland und Ukraine. Auch geht das Unding weiter: Die Unterstützung der Kriegstreibenden fällt ja keinesfalls paritätisch aus. Wir unterstützen de facto Russland weitaus mehr im Angriff als die Ukraine in der Verteidigung.

Auch wegen dieser bewusst verschrobenen Sicht bleibt die Aussage richtig: der koloniale Blick auf “den Osten” hat seit Hitler nie aufgehört.*

Insbesondere wegen diesem Snobismus gegenüber dem Osten haben wir keine Grund dafür gesehen, in Lieferländer zu diversifizieren. Weil wir totsicher das Gas-Anrecht haben, finden wir auch das Sich-Wehren der Ukraine sehr lästig. Es zwingt uns wegen solchen Faktoren wie dem Internationalen Recht, der Ächtung von Angriffskriegen, wegen sowas wie Menschlichkeit als einem historischen Universalismus, also wegen reinen Selbstverständlichkeiten und Allgemeinheiten, wegen einer Strategie gegen die Verbreitung von Verbrechertum unser Gas-Anrecht ins Risiko zu stellen und damit einen wesentlichen Teil unserer verlogenen Existenzgrundlage.

Das führt, da wir nun, von kurz über lang, nun das kurze Ende von Lang erreicht haben, zu materiellen Unannehmlichkeiten. Jetzt legt es Fehler in der eigenen Matrix bloß, in der eigenen Weltanschauung offen. Skrupellosigkeit steht als psychologische Abwehr hoch im Kurs, je mehr die Aktien fallen, desto mehr steigt die Skrupellosigkeit ins Aberwitzige. Wir setzen als Exportmeister voraus, wir können einkaufen und verkaufen, wenn, wo, von wo und wohin wir nur wollen. Das ist aber nur ein ausgedachter Mechanismus der simpelsten Theorie, die vollständig ohne Ereignisse außerhalb der Ökonomie auskommen möchte. In der Praxis ist das eine zu seichte Logik, die ihre Prämissen nicht reflektieren will und keine weltweite Ordnung tragen könnte und gar nicht die Basis wäre für objektive Annahmen von Realität, so wie wir sie eigentlich erleben.

Man würde sich nicht als Rebell without a cause (Tom Petty), sondern als ein Konsument “without a cause” ertappt finden, wieder einmal, frei von internalisierter Sittlichkeit, postmodern kodifiziert, in Belanglosigkeit geübt, wenn man an dieser Stelle der freien Gedanken nicht rechtzeitig die Eigenmanipulation in Gange hätte.

Just bevor das Ertappen eintritt, flüchten wir aus der Realität destruktiv in die vermeidende gedankliche Abkürzung: die Ukrainer seien doch auch nur Russen und selber furchtbar korrupt und damit kulturlos. Wir dagegen sind um Längen besser und haben daher Anrechte, bspw. von Natur aus auf russisches Gas. Das Selbstverteidigungsrecht, weil die Angegriffenen “Kleinrussen” seien, sei doch nichts als Quatsch. Der von jüdischem Geld gesteuerte Amerikaner, der immer nur an seine Wirtschaft denkt, habe Putin doch verleitet, so was Schlimmes wie Krieg zu machen. Was für uns zählt, wir müssen fokussiert und sehr nüchtern sein, auf unsere Wirtschaft, die Beibehaltung des Pseudorechts der Deutschen vom russischen Gas nutz zu nießen.

Einen solche Argumentation der Selbstgefälligkeit typisiert man als charakterlich verlogen,  als Kategorie Biedermann und Brandstifter, bzw. Untertan, wie gebräuchlich zur Zeit von Heinrich Mann. Olaf Scholz hat in seinen Versprechungen diese unsägliche Verteidigungsministerin als Feigenblatt seiner Nacktheit als Kanzler, unterstützt die manische Beeinflussung der Bevölkerung durch die Eintönigkeit seines Ausdrucks und mit der Wiederholung des Immergleichen und Falschen. Er gibt dem Inbegriff einer “Kombination aus Kleingeistigkeit und Egoismus, die die europäische Haltung derzeit bestimmt” wieder eine deutsche Statur. **

Wenn dann doch wegen dem Mäntelchen der Menschlichkeit von unseren politischen Vertretern der Ukraine etwas wieder angekündigt wird, bzw. versprochen, so werden diese Ankündigungen im Umfang nie und nimmer Leistungen, die im Umfang den Geldern in irgendeiner Weise ebenbürtig sind, die wir für unser Gas-Anrecht an Russland bezahlen. Die Verachtung, die uns Putin entgegenbringt, ist in Zügen nachvollziehbar.

Wir zahlen das Zehnfache und mehr an Putin und rühmen uns, das Opfer eines Angriffskrieges in Europa in seinem “Befreiungskampf” zu unterstützen. “Befreiungskampf”, ein von Olaf Scholz wieder aufgegriffenes heroisches Wording aus seiner Stamokap-Zeit als Jung-Sozialist mit DDR Anhänglichkeit. Mit solchen Ausleihungen im alten Frame versucht er sich und die Linke neu zu framen.

Diese hedonistische Inflation an Moral und Normen zum Selbstlob angesichts Anderslautendem, ist eben jene von der Mehrheit der Deutschen goutierte “Politik des Respekts”, die Selbstabsolution, angesichts der Vernichtung einer Kultur samt Menschen in der östlichen Ukraine. Diese Sorte Respekt kommt von einem professionellen Zyniker einer von einem Moralkodex losgelösten, verkommenen Partei. Sie nimmt, unter Berücksichtigung Jahrzehnte alter Seilschaften und Verpflichtungen, den Massenmord eines Krieges in Kauf für die Aufrechterhaltung eines störungsfreien Alltags; es unterstützt den faschistischen Diktator in seinem Angriffskrieg direkt mit einem Mehrfachen an Geld, als es an Kollekte zahlt für die Aufrechterhaltung der Sonntagsreden eines scholzenden Scheins. Selbst für den Tankrabatt, also für das Unterstützen des Verbrauchs von zum erheblichen Teil russischen Erdöls, lässt man mehr Geld springen.

Quelle für die Tabellen und Statistiken: Olaf Gersemann, Ressortleiter Wirtschaft, Finanzen, Immobilien Die Welt, 13.06.2022

(Danke an Olaf Gersemann und Die Welt)

Obige Statistiken sind für einen medienaffinen Menschen verstörend und erschütternd. Sie weisen zusätzlich zu dem Thema “Erdgas und Ethik” viel auf vom Gleichen der Amoralität. Von der servilen Wohlfühlpropaganda, Deutschland habe extreme Sanktionen verhängt, bleibt objektiv in der Statistik blank das Gegenteil übrig: Deutschland hat über einen breit gestreuten Warenkorb hinweg, gemessen am Maßstab der Valuta, in dem Zeitraum Januar bis April 2022 soviel aus Russland importiert wie praktisch noch nie seit 2010! Deutschland unterstützt Russland in geballter Kraft, damit das faschistische Putin-Regime so massiv wie in den letzten 12 Jahren nicht. Wahrscheinlich hat Putin keinen größeren Geldgeber weltweit. Deutschlands Politik der Lippenbekenntnisse ist in einer Stasis organisierten Wahnsinns geraten seit Beginn der Merkelzeit, postutopisch, nihilistisch, angesichts des Vernichtungskrieges in der Ukraine pervers. Auch Merkel sieht keine Schuld bei sich.

Eingekauft wurden für den permissiven Überfluss in Deutschland von Januar bis April allein von deutscher Seite aus in Russland Aluminium 103% mehr, anorganische Erzeugnisse 157% mehr, Düngemittel 1063% mehr, unedle Metalle 64% mehr, Ölsamen und Heilpflanzen 116% mehr und Fische, Krebse und Weichtiere 30% mehr als im Vorjahrszeitraum, um nur einige Warengruppen zu nennen, die mit besonderen Zuwächsen zu den Vorjahren hervorstechen. Das riecht schon etwas streng nach einer gewissen Begeisterung für Putin unter unseren ökonomischen Eliten. Das hat Schlimmeres als einen “Mangel an Selbstbeschränkung”. Das ist massive Unterstützung des Destruktiven. Die Öffentlichkeit hält hingegen unbeirrt fest an dem Narrativ, unsere Politik würde doch dem Unmenschlichen, so gut es geht, einen Riegel vorschieben. Nichts davon ist der Fall.

Das obig notierte Ausmaß betrifft nur die Importe aus Russland. Zu den Exporten konnte ich nichts Statistisches finden. Hier fehlen womöglich Informationen in den Medien.

Frage: Was sind das für Sanktionen, wenn wir bei dem sanktionierten Land soviel einkaufen wie in den letzten 12 Jahren nicht mehr und entsprechend 16 Milliarden Euro im Zeitraum Januar bis April 2022 überweisen? Haben wir den Verstand verloren? Wie vulgär sind wir, uns so offensichtlich zu belügen und damit, durch diesen Verlust an Ehrlichkeit, weiter zu erniedrigen?

Möchte man das Materielle im Aspekt vom Moralischen trennen, so erhält man folgendes Resultat: Die Hard-facts der in 2022 gewachsenen Importe aus Russland erniedrigen unseren Geist noch schlimmer als dies in dem “Fach” der freischwebenden Moral der Talkshows geschieht über den Tod der anderen und das Verderben der anderen. Die Verlogenheit in den Fakten ist dann doch inhumaner als der Klatsch und der Kitsch.

1993 nannte Zbigniew Brzezinski eine mögliche “Wiedergeburt des faschistischen Phönix in Rußland nicht nur eine ungeheure Ironie der Geschichte. Eine neue Form des Faschismus würde aufgrund ihrer Ansteckungsgefahr das Bemühen um internationale Zusammenarbeit ernsthaft bedrohen. Sie würde die Demokratie als zukunftsweisende Alternative zum Scheitern bringen, und ein nationalistisch motiviertes und von wieder erstarkten Großmachtswünschen angetriebenes Rußland, das höchst wahrscheinlich in immer heftigere Konflikte mit seinen Nachbarn verwickelt wäre, würde zwangsläufig zu einer destruktiven Kraft werden und dazu beitragen, dass die Welt zunehmend unfähig wird, ihre Geschicke zu lenken.” ***

Der sich heute ausbreitende Faschismus der Russen muss auch in Konsequenz dazu führen, spätestens jetzt das Programm zur Abschaltung der Atomenergie in sein Gegenteil zu verkehren, für die Energieversorgung, die Dämpfung des Klimawandels in Kriegszeiten wie auch für den militärischen Nutzen. Die Brückentechnologie Gas, diese Brücke darf wohl als gesprengt konstatiert gelten. Atomkraft wird zwingend, da wir die Next-step-Entwicklung der Fusionsenergie leider nie genügend unterstützt haben.

Deutschland braucht kurzfristig eine zeitgemäße militärische Restrukturierung. Das Fehlen von eigenen Atomwaffen in Deutschland und Polen hat politisch ganz den Realitätsbezug verloren. In Friedenszeiten ist “Atomkraft Nein Danke” eine schicke Auslassung, die zeigt, was man sich leisten kann. In einem nun tickenden Zeitraum von 1 – 3 Jahren kann diese fortgesetzte Auslassung das Ende von Europa bedeuten. In jedem Falle werden wir, ohne Atomkraft, Wichtiges im Kampf gegen den Klimawandel unterlassen.

Das akute Bedrohungs-Szenario durch Russland wird gesellschaftlich noch bei weitem zu klein und viel zu kurz, in Tagen gedacht. Als ob Putin wieder aufhören würde und alles würde wie zuvor sein. Russland hat sich vollständig von der internationalen Ordnung gelöst und verabschiedet. Rußland scheint das klarer zu sein als uns im Westen. Putin hat uns in St. Petersburg in seiner Rede auf dem Wirtschaftsforum die entsprechende gedankliche Hilfestellung gegeben, realistisch gesehen, gäbe es kein Zurück in die Zeit vor dem Angriffskrieg, der sich seinerseits, gemäß seinen Worten, gegen den Westen richtet.

Die atomare Bewaffnung könnten wir uns mit Polen teilen, nicht mit Frankreich. Polen und Deutschland sollten zweckdienlicher Weise enger zusammenrücken, alles das unterlässt Deutschland. Die große Frage der Geisteskrise stellt sich: Entwickelt Europa endlich während dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seine politische, gesellschaftliche Identität? Diese wäre, wie wir nun wissen, nur unter Einbindung des Ostens in Europa zu finden. Oder will man doch die Ukraine, Moldavien, Georgien Russland zum Fraß vorwerfen und Russland an Menschen damit stärken? Identität entsteigt keinem relativistischem Agnostizismus, eher einer Notwendigkeit, die deutlich nun gegeben ist und wie vor Jahrhunderten unsere Zivilisation bedroht. Soll diese Herausforderung ein Identitätsgewinn werden, wie eine eben sehr ähnliche schon einmal Europa formte, müsste Deutschland sich aus seiner angewöhnten Stasis befreien, sich selbst emanzipieren. Es muss in Europa nicht weniger U.S.A, sondern mehr Europa geben, schnellere Entscheidungsverfahren in endlichen demokratischen Abläufen. Dazu gehört jetzt ganz offensichtlich die Abschaffung der Einstimmigkeit in beiden wesentlichen Institutionen, in Nato und EU. Letzteres muss mit der Stärkung des Parlaments der EU verbunden werden. Diese Einstimmigkeit in der Kommission und im Rat der EU  mit einem Federstrich zu streichen, muss nun die herausragenden Aufgabe sein, abgelöst durch das Zwei-Drittel-Mehrheitsprinzip. Europa überlebensfähig machen, muss jetzt der Kern deutscher Politik sein.

Wir sind als EU mittlerweile das berühmte Omelett, aus dem man keine Eier mehr machen sollte, selbst wenn sich solche Eier die AfD und andere Rückwärtsgewandte wünschen. Die Eier würden nicht gelingen oder gut aussehen.

*In diesem Diskurs über verdeckten oder auch offenen Chauvinismus der Deutschen in Richtung Osteuropa hat Anton Hofreiter von den Grünen leider Recht, keinesfalls das SPD Mitglied und der Historiker Herfried Münkler. Die Inkompetenz einer versteckten Doktrin liegt ganz seinerseits bei Herrn Münkler, denn seine Sicht im Gastkommentar im Magazin Focus grenzt hier an politische Amnesie. Über Generationen geht die Sicht der Deutschen auf den Osten nämlich weit über einfache, harmlose, weil folgenlose Reminiszenzen hinaus. Diesen Hinweis auf den Chauvinismus findet man auch oft genug hervorgehoben bei Zbigniew Brzezinski. Mitteleuropa und Osteuropa wurden seit langer Zeit von den Deutschen nur als Ressourcen, als verlängerte Werkbänke gesehen oder als zweitklassige Absatzmärkte. Das geht noch auf “Mein Kampf” zurück und die Zeit davor. Europa im eigentlichen Sinne wurde von den Deutschen bisher irgendwo zwischen Frankreich, den holländischen Inseln und Deutschland verortet.

** Seite 171, Macht und Moral, Zbigniew Brzezinksi, 1994, Hoffman und Campe

*** Seite 209 – 210, Macht und Moral, Zbigniew Brzezinksi, 1994, Hoffman und Campe

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